Nicht mehr arbeiten gehen

Der Junge war vielleicht acht Jahre alt. Es schmerzte deshalb umso mehr, als er rief: „Geht arbeiten!“ Wir im Protest, saßen, klebten auf der Straße. Und es gibt da Sätze, die Autofahrende immer wieder brüllen:
„Ich überfahre euch!“
„Hack ihnen die Hände ab!“
„Ins Lager mit denen!“
Aber keiner beschäftigt mich so viel, wie der Satz mit dem Arbeiten. Oftmals stehe ich danach noch irgendwo an einer S-Bahn-Station und denke darüber nach, warum er immer wieder kommt. Auch, weil er selten so richtig wütend gegen uns geschleudert wird. Da ist immer noch was anderes.
Die Menschen rufen das nicht aus einem Stolz heraus, auch nicht aus einer „We built this City on Rock’n’Roll“-mäßigen Freude. Vielleicht bei manchen ist da auch ein: „Wir tun was fürs Gemeinwohl, aber ihr seid faul.“ Aber vor allem klingt es verletzt, als würden die Menschen unter ihrer Arbeit leiden – die Geschichte von der sinnstiftenden Tätigkeit ist nichts als eine fette Lüge des Spätkapitalismus: Die meisten Arbeitenden werden doch immer noch ins Joch gezwungen.
An dieser Erkenntnis ist nichts schrecklich neu. Was mich daran so traurig macht: Weil es ihnen schlecht geht, wünschen sie uns anscheinend das gleiche Los – entweder, weil sie in ihrem Schmerz niemandem mehr etwas Besseres gönnen können, oder weil sie uns halt scheisse finden. Was von beidem es ist, keine Ahnung, das ist wahrscheinlich individuell.
Ich bin kein Freund von Back to the Roots-Erzählungen. Ich glaube nicht, dass alles früher besser war, und wir bloß wieder ohne Strom in Hütten leben müssen. Aber Inspiration gibt’s da schon.
Im Mittelalter versorgten sich die Menschen von der Allmende. Fast alles gehörte allen, und jeder nahm sich aus Wäldern, Seen und von Weiden, so viel er oder sie brauchte. Das garantierte wirtschaftliche Unabhängigkeit. Und hatte man genug für den Rest des Monats erarbeitet, ließ man auch mal den Hammer fallen. Selbst von offizieller Seite gab es 85 arbeitsfreie Feiertage pro Jahr.
Der gute Luther erhob die Arbeit dann zum Gebot Gottes, in den Bauernkriegen enteigneten die Fürsten die Bevölkerung. Luther schrieb dazu, man solle die Bauern "zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wie man einen tollen Hund totschlagen muss." 100.000 Bauern verloren ihr Leben.
Die anderen mussten seitdem ihre Arbeitskraft an Lehnsherren und später Fabrikbesitzer verkaufen, damit die ihren Reichtum vergrößern können – und so ist es bis heute: auf der einen Seite haben wir internalisiert, dass wir nur gute Menschen sind, wenn wir arbeiten, und zum anderen haben die meisten Menschen keine ökonomische Basis, die es ihnen erlauben würde, es nicht zu tun – die ökologische Klasse wird sich von ihrem Arbeitsfetisch befreien und die Profitwirtschaft abschaffen müssen.
Jetzt würde ich mir wünschen, ich könnte sagen: Wir bei der Letzten Generation, wir sind schon so weit. Aber auch das wäre eine Lüge. Auch bei uns gilt: Wer hart arbeitet, Leistung zeigt, über die eigenen Grenzen geht, bekommt Respekt und Anerkennung.
Einmal war ich mit Melanie* im Protest, als ein Betonmischer ihr fast über die angeklebte Hand fuhr, einfach weil er nicht für unseren Protest stoppen wollte. Dann ging die Polizei ziemlich ruppig gegen Melanie vor und als sie in den Polizeikessel gebracht wurde, brach ihr Kreislauf zusammen. Ein Krankenwagen kam und nahm sie mit in die Notaufnahme.
Später kam ich in unsere Unterkunft. Melanie saß schon da am Küchentisch an ihrem Laptop. Sie hatte sich selbst aus dem Krankenhaus entlassen und nahm jetzt an einem Call teil. Saß sie da, weil sie wirklich internalisiert hat, dass sie nur geliebt wird, wenn sie arbeitet? Keine Ahnung, ich habe sie nicht gefragt. Vielleicht war es auch nur meine Projektion, weil ich das oftmals selbst so fühle.
Meine liebe Freundin Laurine war früher Ingenieurin, hat das mit der Klimakrise irgendwann kapiert und ist für einige Zeit in ein buddhistisches Kloster gegangen. Die vergangenen Monate hat sie mit einigen Freund*innen zusammengewohnt, ein bisschen Bodywork gemacht, Bekannte gekümmert, die Hilfe brauchten, gegärtnert und vor allem richtig langsam gelebt. Mir hat das fast körperlich wehgetan, ihr dabei zuzusehen – immer Inneren oft dieser stumme Schrei: Wir müssen doch so viel tun!
Und vielleicht ist das auch nur ein bisschen der Schmerz des Vogels, der im Käfig lebt, wenn er seine freien Geschwister singen hört.
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